Die Buchkönigin liest und empfiehlt

Wir möchten euch an dieser Stelle die Bücher zeigen, hinter denen wir voll und ganz stehen: ungeschönt, authentisch und ehrlich. Ganz egal ob vielbesprochene Instabubble-Größen, abseitig Nerdiges, Unterhaltungsliteratur, tiefgründige Erzählungen, Lyrik, Sachbuch oder Ratgeberin. Sei es poetisch, verschlungen, sachlich, verspielt, klassisch oder experimentell: Wir zeigen euch, was uns wirklich gefallen hat!

 

Mittwoch, 04. Januar 2023

Bücher-Frühjahr 2023

Unsere ersten Highlights!

 

Douglas Stuart „Young Mungo“ aus dem Englischen von Sophie Seitz

Nicht ganz ein Jahr nach dem Erscheinen von „Young Mungo“ kommt nun die deutsche Übersetzung von Sophie Seitz bei Hanser Berlin, sodass dieser großartige Roman auch für alle lesbar wird, die lieber auf Deutsch lesen. Wir freuen uns sehr darüber!

Douglas Stuart hat mit dem Roman „Shuggie Bain“ im Jahr 2020 den Booker Preis erhalten, was den Titel zu einem der erfolgreichsten Debüts seit vielen Jahren macht. Wie „Shuggie Bain“ spielt auch „Young Mungo“ in Glasgow. Vielmehr dürfen wir euch vor dem Erscheinungstermin am 20.02.2023 aber gar nicht verraten, deswegen an dieser Stelle erst mal nur der Klappentext vom Verlag:

"Für die hypermaskuline Welt der Arbeiterviertel im Glasgow der 90er Jahre ist Mungo zu hübsch und zu sanft. Sein Bruder Hamish, gefürchteter Bandenführer, will ihn zum Mann machen und schleift ihn zu den brutalen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken - nur wer hart genug ist, kann hier überleben. Dann trifft Mungo auf James und mit ihm kann er sein, wie er ist. Mit ihm lernt er ein Begehren kennen, das geächtet ist, das ihn mit Scham erfüllt, aber auch mit Glück, das er selbst vor seiner Schwester Jodie verleugnen muss, mit der er sonst alles teilt. Denn die Liebe, die zwischen den Jungen wächst, ist lebensgefährlich - und zugleich ihre Rettung.

Ein großartiger Roman über Liebe in einer von Gewalt geprägten homophoben Welt und die Verheißung von Aufbruch und Befreiung."

 

zum Buch

 

Virgenie Despentes „Liebes Arschloch“ aus dem Französischen von Ina Kroenberger und Tatjana Michaelis

Wer freut sich nicht über ein neues Buch von Virginie Despentes?!

Das schreibt der Verlag Kiepenheuer und Witsch zum Buch, das am 09.02.2023 erscheinen wird:

Mit der ihr eigenen Verve und Sprachgewalt nimmt sich Despentes der Themen unserer Zeit an – #MeToo und Social Media, Drogen, Machtmissbrauch, Feminismus. Ungeschönt, aber nicht unversöhnlich hält Despentes unserer Gesellschaft den Spiegel vor.

Rebecca, Schauspielerin, über fünfzig und immer noch recht gut im Geschäft. Oscar, dreiundvierzig, Schriftsteller, der mit seinem zweiten Roman hadert, und Zoé, noch keine dreißig, Radikalfeministin und Social-Media-Aktivistin. Diese drei, die unterschiedlicher nicht sein könnten, treffen nach einem verunglückten Instagram-Post Oscars aufeinander. Wie? Digital. Und so entsteht ein fulminanter Briefroman des 21. Jahrhunderts, in dem alle wichtigen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit verhandelt werden. Rebecca, Oscar, Zoé, alle drei sind vom Leben gezeichnet, voller Wut und Hass auf andere – und auf sich selbst. Aber sie müssen erkennen, dass diese Wut sie nicht weiterbringt, sondern nur einsamer macht, dass Verständnis, Toleranz und sogar Freundschaft erlernbar und hin und wieder sogar überlebenswichtig sind.

Mit dieser Tour de Force durch gesellschaftliche Debatten und Konflikte behauptet Virginie Despentes klar ihre Position als eine der wichtigsten Autor*innen Frankreichs, die Wut und Aggression gekonnt einsetzt, um Versöhnung zu predigen. Ganz große Literatur.“

 

Judith Hermann, „Wir hätten uns alles gesagt“

Auch Judith Hermann ist eine von uns sehr geliebte Autorin, umso mehr freuen wir uns auf ihren am 15.03.2023 erscheinenden autobiografischen Text.

Das schreibt der S. Fischer Verlag zum Buch:

Eine Kindheit in unkonventionellen Verhältnissen, das geteilte Berlin, Familienbande und Wahlverwandtschaften, lange, glückliche Sommer am Meer. Judith Hermann spricht über ihr Schreiben und ihr Leben, über das, was Schreiben und Leben zusammenhält und miteinander verbindet. Wahrheit, Erfindung und Geheimnis – Wo beginnt eine Geschichte und wo hört sie auf? Wie verlässlich ist unsere Erinnerung, wie nah sind unsere Träume an der Wirklichkeit.

Wie in ihren Romanen und Erzählungen fängt Judith Hermann ein ganzes Lebensgefühl ein: Mit klarer poetischer Stimme erzählt sie von der empfindsamen Mitte des Lebens, von Freundschaft, Aufbruch und Freiheit.“

 

zum Buch

 

David Schalko, „Wir lassen uns gehen“ und „Was der Tag bringt“

Wir wollten hier eigentlich keinen Verlag doppelt zeigen, aber in diesem Fall geht es einfach nicht, sich zwischen den beiden Autor*innen zu entscheiden: bei Kiepenheuer und Witsch wird nicht nur Virginie Despentes, sondern auch David Schalkos neuer Roman sowie ein Erzählband erscheinen und wir sind einfach nur hin und weg von diesen Aussichten! Passend zum Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse: Österreich ❤

Wir lassen uns gehen:

Surreal, verstörend und von irrer Komik. David Schalkos Erzählband »Wir lassen uns gehen« führt durch eine abgründige und doch schaurig vertraute Parallelwelt voller schräger Figuren und Verwicklungen.

Egal ob bitterböse Satire, grelle Gesellschaftsstudie oder absurdes Alltagsdrama: Jede der in diesem Band versammelten Erzählungen hat ihren ganz eigenen Twist. Da ist der abgehalfterte Tennistrainer Horniczek, der nach einer Ohnmacht drei Sekunden in die Zukunft sehen kann und es schnell bereut; da ist der Mann, der nichts ein zweites Mal tun kann; das ist Hermann »Jeff« Kanter, der letzte Cowboy Deutschlands; ein amerikanischer Spitzenkoch, der am Weihnachtstag plötzlich mit den zu bratenden Papageien diskutiert; oder die Sonne, die sich in den Weltenbummler Johnny Weissmüller verliebt und seine Nähe sucht, was an Johnnys Urlaubsort zu einem nie gesehenen Rekordsommer führt.

Mit dem ihm eigenen Humor und Sound erzählt David Schalko in neunzehneinhalb Kurzgeschichten von den seltsamen Träumen, täglichen Krisen und bizarren Obsessionen dieser eigenartigen Spezies Mensch.“

Was der Tag bringt:

Wer sind wir ohne Arbeit? Was brauchen wir zum Leben? Was macht uns aus? David Schalkos »Was der Tag bringt« ist ein bestechender Kommentar auf unsere sich radikal verändernde Arbeitswelt – ein Roman, grotesk, komisch und aufwühlend bis zuletzt.

Felix ist Ende dreißig, Single und Unternehmer. Mit seinem Start-up für nachhaltiges Catering ist er, endlich, auf einem guten Weg. Dann aber kommt die Pandemie, bleiben die Aufträge aus, gewährt ihm die Bank keinen weiteren Kredit. Felix muss die Firma schließen und sich reduzieren, muss Auto, Möbel, Schmuck verkaufen, um wenigstens die von der Mutter geerbte Wohnung behalten zu dürfen. Um über die Runden zu kommen, ist er fortan gezwungen, die Wohnung monatlich für acht Tage zu vermieten. Monat für Monat zieht Felix also von Gästecouch zu Gästecouch, verstrickt sich vor Scham in bizarren Geschichten, gerät mit guten Freunden aneinander, zweifelt, taumelt durch die Ruinen seines früheren Lebens, sucht nach einem Sinn, der nicht in der Arbeit liegt, und zieht sich schließlich immer weiter zurück, wird sich selbst fremd, fällt und fällt. Wo schlägt er auf? Wer kann ihn halten?

Mit unnachahmlichem Witz und Scharfsinn erzählt David Schalko von einem, dem das Leben entgleist und die Gesellschaft abhandenkommt, der um Existenz und Sinn ringt in einer ihm immer fremder werdenden Welt. »Was der Tag bringt« ist ein faszinierendes Psychogramm der Post-Covid-Gesellschaft und ein Text, der die großen Fragen der Zeit mit erzählerischer Leichtigkeit verhandelt.“

 

zum Roman

 

zu den Erzählungen


Samstag, 06. August 2022

A Room of One's Own

Wir freuen uns sehr über die verschiedenen kurzen Formen, die uns dieses Jahr von uns geliebten Autor_innen vorliegen und möchten euch diese feinen Stücke nicht vorenthalten!

 

Antje Rávik Strubel: Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss

Welch eine Wonne! Antje Rávik Strubel schreibt galant und eindrücklich, verhandelt in Essays, Reden, Kurztexten prosaisch wie lyrisch, sachlich wie emotional, Fragen um Nicht_Identität, Bewegung, Stillstand, um Nicht_Revolutionen in Literaturbetrieb, Gender_Diskursen und dem Schreiben selbst. Mit Klugheit und einer unvergleichlichen Selbst_Reflexion lotet Strubel aus, bringt auf den Punkt, erkundet neugierig wie abgeklärt zugleich und regt zum Weiter_Denken an. Ihre intertextualen bezüge zu Virginia Woolf sind dabei noch das I-Tüpfelchen We love it!

Strubel, Anjte Rávik: Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss; S. Fischer 2022; 24€

 

Sharon Dodua Otoo: Herr Gröttrup setzt sich hin

Mit dieser feinen Zusammenstellung dreier Texte Sharon Dodua Otoos wird die Verknüpfung ihres künstlerischen Schaffens zwischen 2016 und 2022 und dessen universellen Dimensionen spürbar. Startpunkt ist „Herr Gröttrup setzt sich hin“, mit welchem Otoo 2016 den Bachmann-Preis erhielt und sie zu ihrem Debutroman Adas Raum inspirierte. Mit „Dürfen Schwarze Blumen Malen?“ hielt sie 2020 die Eröffnungsrede zum Bachmann-Preis und thematisiert darin Fragen zu Diversität im Literaturbetrieb. Abschließend erlaubt uns Otoo einen Blick in ihr literarisches Verhältnis zu ihren Eltern in „Härtere Tage“, der den Band abschließt und die Sammlung somit gelungen abrundet.

Otoo, Sharon Dodua: Herr Gröttrup setzt sich hin; S. Fischer 2022; 18€

 

Helene Hegemann: Schlachtensee

Snoopy, das Meer und ich; Das Lamm und das Gespenst; Befreiungskriege; Sie ist geschäftlich in...; Wie es sich anfühlt ein Krebs zu sein: dies sind nur ein paar der Titel dieser Sammlung von Kurzgeschichten und sie spiegeln hervorragend ihre Vielgestalt wieder.

Wir lesen in den mit großem thematischem Einfallsreichtum aufwartenden Episoden Hegemanns in leiser Form, die sich gleichsam immer wieder durch unerwartete Entwicklungen und Metaphern selbst aufbricht. Auch wenn ihre popkulturellen Andeutungen zuweilen etwas erzwungen wirken, so sind wir insgesamt sehr begeistert von dieser widersprüchlichen Prosa, die eine große Vielfalt sprachlicher Bilder entwirft!

Hegemann, Helene: Schlachtensee; Kiepenheuer & Witsch 2022; 23€


Mittwoch, 08. Juni 2022

Senthura Varatharajah: Rot (Hunger) & Jenny Hval: Perlenbrauerei

Diesen Monat widmen wir uns zwei Titeln, die uns an die Grenzen des Körperlichen bringen. Materie verliert ihre Formen, nimmt neue an, mäandert surreal durch das Textgefüge. Sie wird zerschlagen, ver_un_vollständigt.

Senthura Varatharajah: Rot (Hunger)

Mit den Worten „Das ist eine Liebesgeschichte.“ beginnend, wagt sich Senthura gekonnt an sein prägnantestes Motiv: das Verlangen des Verzehrens. Des In-Sich-Aufnehmens, Einverleibens. Es ist keine romantische Erzählung, sondern ein Roman, nein, ein Gedicht, ein Sich-Zusammenfügen von Fragmenten. Keine leichte Kost. Vielmehr eine Herausforderung von Grenzen des Sagbaren, Schreibbaren, Fühlbaren, Denkbaren. Seine Form erlaubt es den Lesenden ebenso in das Buch gesogen zu werden, wie die namenlosen Protagonist_innen in ihre Begehren. Die Erzählung gestaltet gerade erst durch ihre Form ihren Inhalt: Varatharajah schafft somit einen Text für alle experimentierfreudigen Leser_innen. Rot (Hunger) lebt in seiner Prozesshaftigkeit und entfaltet sich durch das Lesen selbst.

Varatharajah, Senthura: Rot (Hunger); S. Fischer 2022; 23€

 

Jenny Hval: Perlenbrauerei

Es gibt Texte, die lassen einen nicht mehr los. Kurz nachdem ich Perlenbrauerei gelesen habe, war mir noch nicht klar, wie oft mich seine Stimmung wieder einholen würde. Es war ein interessant absurdes Buch, das mich mit widersprüchlichen, alltäglichen und drastisch-absurden Beschreibungen zu fesseln vermochte, ich fühlte mich gut unterhalten. Als ich jedoch auch nach 2 Wochen noch feststellte, wie oft ich mich in der Stimmung des Textes wiederfinden würde, wurde mir klar, wie hervorragend Jenny Hval eben jene zu schaffen vermochte.

Wir begleiten die Austauschstudentin Jo in einer ihr unbekannten Umgebung. Sie findet Unterschlupf in einer alten Brauerei, die ihr und ihrer Mitbewohnerin Carral, durch von dünnen Spanplatten getrennten Räumen, als Wohnraum dient. Die Räume verschwimmen und zerfallen jedoch mehr und mehr, auch ihre Körper scheinen mit der Umgebung zunehmend zu verschmelzen. Es wachsen Flechten und Pilze, Flüssigkeiten treten zutage und selbst die kleinsten Geräusche sind kaum mehr auszublenden. Die Beziehung der beiden Figuren verändert sich, es kommen wenige weitere Schauplätze hinzu. Dreh- und Angelpunkt bleibt aber die Perlenbrauerei mit all ihren sich entwickelnden Identitäten.

„Die norwegische Musikerin und Schriftstellerin Jenny Hval schafft in ihrer Prosa das, wofür auch ihre Musik gefeiert wird: Ein so tiefer wie kompromissloser Blick auf Identität und Sexualität, Begehren und Körper.“

Hval, Jenny: Perlenbrauerei; März Verlag 2022; 22€


Freitag, 01. April 2022

Dilek Güngör: Vater und ich

Güngörs Roman ist ein Kammerspiel: Die erfolgreiche Journalistin Ipek besucht den Vater übers Wochenende; die Mutter ist für einige Tage weggefahren. Es ist eine ungewohnte Situation, eine intime Atmosphäre, eine unvermittelte Konfrontation. Niemand ist da, der die Sprachlosigkeit wegreden, niemand, der das Unbehagen mindern könnte. In vielen kleinen Gesten der Unbeholfenheit wird die immer offensichtlicher werdende Ferne erzählt. Es ist darin eine doppelte Verzweiflung zu spüren: Es fehlen die sprachlichen Mittel, den Graben zu überwinden und die körperliche Fremdheit vertieft ihn noch weiter.

Ähnlich wie Annie Ernaux, Édouard Louis und Didier Eribon unternimmt auch Dilek Güngör den tastenden, mutigen Versuch, der Wortlosigkeit mit einer großen Offenheit, einer ungeschönten Sprache zu begegnen. Und mit einer Form, die weder dem konventionellen Roman entspricht noch einer Autobiografie, weder literarische Flucht ist noch bekenntnishafte Selbstoffenbarung. Tatsächlich trägt „Vater und ich“ die Gattungsbezeichnung „Roman“, aber doch lässt sich das Buch gut in eine Reihe stellen mit jenen in den letzten Jahren vermehrt erscheinenden Memoires, die Fragen von Herkunft und Klasse umkreisen: Mit einer einfachen, suchenden Sprache stöbert Güngör die kleinen, schambehafteten Momente auf, die im Persönlichen ihre Sprengkraft entfalten, aber immer auch eine gesellschaftliche Dimension haben. Denn die Entfremdung, die sie schildert, ist nicht nur „hausgemacht“: Sie hat zu tun mit den feinen Unterschieden und Rissen, mit denen Klassenwechsler, zudem mit migrantischem Hintergrund, konfrontiert werden.

Je weiter der zurückgelegte Weg in eine andere Welt, desto schwerer die Rückkehr ins Herkunftsmilieu. Und die Suche nach einer gemeinsamen Sprache.

Güngör, Dilek: Vater und ich.; Verbrecher Verlag 2021; 19€


Freitag, 01. April 2022

Anna Yeliz Schentke: Kangal

Ein Leben in Istanbul. Für die Einen Erfüllung, für die Anderen kaum auszuhalten. Aber ist es wirklich so einfach? Dilek muss und will sich entscheiden, für ein Leben, ihr Leben: kann sie der ständigen Angst vor Verfolgung entfliehen? Wie kann sie sich kritisch gegen eine Regierung äußern, die gnadenlos gegen jegliche Opposition vorgeht? Gibt es für sie einen Ort der Sicherheit und des Vertrauens?

Sie entscheidet sich für Deutschland als Möglichkeitsort ihres Daseins, versucht sich zunächst alleine durchzuschlagen. Die politischen Netzwerke sind weit verzweigt und Dileks Furcht vor einer Strafe ist omnipräsent. Dann trifft sie auf ihre Cousine, die sie Jahre lang nicht mehr gesehen hat, da sich Mutter und Tante aus ihr nur erahnbaren Gründen zerstritten haben. Wie kann eine Versöhnung stattfinden, wenn Erfahrungen aus Furcht nicht erzählbar werden?

Die Struktur des ständigen Perspektivwechsels in Kangal ermöglicht die Betrachtung verschiedener Erfahrungswelten mit einem oppressiven Staat und machen das jeweilige Unverständnis gegenüber den anderen Protagonist:innen verstehbar und tragisch zugleich. Im Vordergrund stehend scheint Dilek, alles um sie herum nur Kulisse, um ihren Erfahrungen Raum zu geben, sie in Abgrenzung nahbar zu machen. Doch erst das Panorama der subjektiven Blickwinkel lässt die Komplexität der Geschehnisse, Emotionen, Gedanken und Gefühle erahnen.

Ein starker Roman über Loyalität, Verrat, Vertrauen, Flucht und Kampf.

Schentke, Anna Yeliz: Kangal; S. Fischer Verlag 2022; 21€


Freitag, 18. März 2022

Kinsky, Esther: Rombo

Ein Erdbeben erschüttert. Aber erschüttert es auch unabhängig vom Menschen? Wie wäre die Sprache einer vermenschlichten Natur um „il rombo“, dem Grollen, das ein Erdebeben ankündigt? Welche physischen und psychischen Schicksale verbinden die Geschehnisse, wenn sich die Erde in unbändiger Wucht bewegt und von welcher Materie kann als einer natürlichen berichtet werden, wenn es sich um solche Bewegungen handelt?

Naturereignisse in Beziehung zum Anthropozän, ob unabdingbar verknüpft mit dessen Wirken oder gerade losgelöst von der Arroganz des menschlichen Schaffens, Esther Kinsky nimmt sich ihrer an und fast sie in eine solch feine Sprache, dass es kaum auszuhalten ist. Ihr Stil ist wirklich einmalig, sprachlich wie narrativ bewegt sich Rombo auf höchstem Niveau ohne sich dabei aufzudrängen.

Kinsky, Esther: Rombo; Suhrkamp Verlag 2022; 24,00€


Freitag, 18. März 2022

Kaśka Bryla: Die Eistaucher

Iga, Ras, Jess und Saśa verbindet dieses unheilvolle Ereignis. Wozu ihre jeweiligen Erfahrungen mit erlebten Ungerechtigkeiten führen, erschließt sich den Lesenden spannungsreich Stück für Stück. Ras, der meint seinen Verstand zu verlieren, sieht sich in einer Abwärtsspirale gefangen. Iga, ihr Board Loaded Dervish immer unter den Füßen, zwischen Ablehnung und Anziehung ihrer Umwelt gleitend, treibt es immer mehr Richtung Isolation. Jess' Gewahrwerden der Unzulänglichkeiten des Lebens schwankt zwischen Aktionismus und Theoretisierung. Saśa mit seiner Überschreitung des Menschlichen.…

Dialog und Schilderung halten sich stilistisch die Wage, die Erzählweise ist sprunghaft-linear, die Perspektiven glaubhaft und intensiv. Wie eine brüchige und gleichsam dichte Eisschicht nehmen die Ereignisse Formen an. Das Ganze ist gespickt mit mysthisch-unheilvollen Elementen, die eine Kluft zwischen Realität und Fiktion schaffen und dabei ebenso real daherkommen, wie alltäglich-banales.

Ob mit Loaded Dervish oder nicht, Die Eistaucher von Kaśka Bryla hat einfach Drive und die vier Aussenseiter:innen Iga, Ras, Jess und Saśa bleiben einem lange im Gedächtnis.

Bryla, Kaśka: Die Eistaucher; Residenz Verlag 2022; 24,00€


Freitag, 18. März 2022

Müllensiefen, Domenico: Aus unseren Feuern

Müllensiefens Protagonist Heiko stellte mich beim lesen von Aus unseren Feuern regelmäßig auf die Probe: sympathisch, unsympathisch, Opfer, Täter, Arschloch?! Ich weiß es bis heute nicht und gerade das macht die Stärke der Figuren in diesem Roman aus. Süffig, roh und körperlich ist diese Sprache, die es gleichsam schafft ihre Protagonist:innen verletzlich zu zeichnen.

Wir begleiten Heiko bei seiner, teilweise sehr detailliert beschriebenen Arbeit als Leichenbestatter, es kommt soweit, dass er einen seiner besten Freunde auf dem sterilen Tisch betten muss. Seine Emotionen erschließen sich den Lesenden indirekt, Heiko ist kein Freund der großen Worte. Das gegenwärtig Erlebte führt zu Rückblenden in seine Jugendjahre, deren Ereignisse inhaltlich wie sprachlich in die Gegenwart reichen.

Drei Jugendliche, die ihren Platz zu finden versuchen, einerseits sich passiv den Gegebenheiten anpassend, andererseits voller Wut und dem Drang sich zu beweisen. Ruppig-tragisch-komische Dialoge stehen gekonnt neben trocken Erzähltem und schaffen so ein gutes Gespür für Heikos Innenleben, auch wenn er selbst dazu schweigt. Ich kann es kaum erwarten, dass Domenico Müllensiefen noch sehr viel mehr veröffentlicht, ich bin großer Fan!

Müllensiefen, Domenico: Aus unseren Feuern; Kanon Verlag 2022; 24,00€